Julius Dörr †
Vor vierzig Jahren verlor Freienwalde seinen Bürgermeister Linsingen durch den Tod. Mit ihm ging ein außerordentlich begabter und um die Entwicklung der Stadt hochverdienter Mann zu Grabe. Julius Linsingen, geboren am 13. September 1831 zu Treuenbrietzen, kam als Stadtsekretär hierher. Seine besondere Befähigung wurde rasch erkannt. 1858 wählte man ihn zum besoldeten Beigeordneten und 1865 einstimmig zum Bürgermeister.
Über die Einführung des neuen Bürgermeisters am 1. Februar 1866, die mit besonderer Festlichkeit begangen wurde, schrieb der “Oberbarnimer Kreisanzeiger” in seiner Nummer vom 3. Februar: Um 12 Uhr mittags fand die Einführung Linsingens sowie des neugewählten Rittmeisters v. Diemar so-wie der beiden Ratmänner Herms und Sydow statt. “Als darauf der neue Bürgermeister mit der Versammlung aus dem Rathause trat, um sich zu dem bei Poy arrangierten Festessen zu begeben, wurde derselbe auf eine angenehme Art durch die vor dem Rathaus aufgestellten Schützengilde und Handwerkerinnungen überrascht, die ihren Bürgermeister zum ersten Mal mit Schwenken der Fahnen, Musik und Trommelschlag begrüßten. Der Schützenmeister Haucke sowie der Führer der Handwerker, Bräutigam, bewillkommneten in herzlicher ergreifender Weise den Bürgermeister und segneten seinen ersten Gang aus dem Amtshause mit Gläckwünschen.” Mit Musik und Trommelschlag begab man sich in langem Zug zum Festessen im Poyschen Saal (jetzt Kurtheater).
Freienwalde zählte kaum fünftausend Köpfe, als Linsingen zu Einfluß kam und an die Spitze der Verwaltung trat. Es war ein stilles Landstädtchen. Die Industrie war nur durch die Kirchenziegelei (damals Kalisch, jetzt Buggenhagen), die Ratsziegelei (Benekendorf) und die Hilkesche Kalkbrennerei vertreten; alle drei Unternehmungen geringen Umfanges. Das Bad spielte keine besondere Rolle, da eine Bahnverbindung fehlte.
Für diese Verbindung setzte der junge Beigeordnete und Bürgermeister sofort seine ganze Kraft ein. Er gewann die Stadtverordneten für einen Zuschuß von 20 00 Talern und im Dezember 1866 rollte der erste Bahnzug auf der Strecke Eberswalde – Wriezen hier ein. 1876 kam die Strecke nach Angermünde hinzu.
Als weiteres Mittel zur Hebung des Gemeinwesens betrieb Linsingen die Verbesserung der Schulen, namentlich die Begründung des Vollgymnasiums.
Seit Mitte der achtzehnhundertfünfziger Jahre gab es hier neben der Elementarschule eine private Knabenschule und eine ebenfalls private höhere Töchterschule; letztere, mit Pensionat verbunden, stand unter der Leitung des Fräulein Klementine Wangemann, Schwester des bekannten Missionsdirektors Wangemann; ihr Heim war das eigens dazu erbaute Viktoriahaus.
Die Knabenschule wurde unter Erweiterung zum Progymnasium 1863 in Stadtverwaltung übernommen; sie war zweitweise im alten 1769 errichteten Seidenhause untergebracht, das vom damaligen Besitzer, Gastwirt Klemm, auf mehrere Jahre gemietet war. Jetzt kaufte die Stadt das Seidenhaus – an dessen Stelle erhebt sich seit 1876 das Kreishaus – nebst dem dazugehörigen Weinberge zur Ausführung eines großzügigen Planes. Die unglaublich enge Uchtenhagenstraße wurde an der Biegungsstelle kietzaus verbreitert und eine neue Straße den Weinberg hinauf angelegt. In dieser Straße erhielt das Progymnasium sei dauerndes, stattliches Heim. Die Feier der Grundstein-Legung des Gymnasialgebäudes fand am 24. Mai 1866 statt. Die Einweihung des Grundsteins nahm Oberpfarrer Schotte vor, wobei auch folgendes reizendes Gedicht des Direktors W. Kopp in den Grundstein nebst den üblichen Urkunden, Zeitungen, Münzen usw. mit hineingelegt wurde:
“Von Bergen umschlossen im grünenden Kranz
und schimmernd rings umgossen vom Frühlingsblütenglanz,
so ruhe im Grunde, du Stein felsenhart,
so füge sich zum Bundeswehr der Brüder starre Art,
zum Hause der Jugend, des Lebens Lenz, geweiht,
daß Wissen ihr und Tugend sei hier ins Herz gestreut.
O Gott, laß nun streben den Bau hoch und kühn,
laß frisches, frommes Leben in seinem Schoße blühn,
und weit in die Auen in deinem Sonnenstrahl
laß leuchtend zu ihn schauen aus unserm Weinbergstal.”
Der Bau wurde 1867 vollendet; im folgenden Jahre erkannte die Aufsichtsbehörde die Anstalt als Vollgymnasium an. Die Leitung behielt der bisherige Direktor, Dr. Waldemar Kopp, bis zu seinem Tode Anfang 1881. Ihm folgten, wie hinzuzufügen, als Direktoren die Professoren Dr. Genz, Dr. Braumann, Dr. Hedicke, jetzt Dr. Schulz. – Seit 1869 ist die Anstalt im Staatsbesitz; die Stadt zahlt einen Jahreszuschuss von 14 50 Mark.
Die Elementarschule wurde 1868 in eine Volks- und eine Mittelschule getrennt. Die erstere, jetzt Volksschule I, blieb im umgebauten Jagdschlosse, das Friedrich Wilhelm III. Der Stadt überlassen hatte. In diesem Jagdschlosse waren bis zum Rathausneubau 1855 die Büros der städtischen, Kreis- und Staatsverwaltung untergebracht. Die Mittelschule erhielt 1875 Unterkunft in einem neuen Gebäude, das auch Raum für die höhere Töchterschule (jetzt Lyzeum) bot. Früher hatte dort das städtische Lazarett gestanden; das neue Krankenhaus an der Berliner Straße wurde 1871 eröffnet
Der von Linsingens Maßnahmen erhoffte Aufschwung der Stadt zeigte sich erfreulich und alsbald. Wohlhabende Rentner und Pensionäre begannen Freienwalde wegen seiner guten Schulen und der Bahnverbindung mit Berlin als Ruhesitz zu wählen. Die Bahn ließ Sonntags-Extrazüge los, die Tausende hierher führten und das Stadtbild belebter machten. Die Rückfahrkarte II. Klasse ab Berlin kostete 2,50 Mark. Da konnte sich auch der Minderbegüterte mit Familie eine Sonntagserholung im schönen Freienwalde leisten. Mit der Kopfzahl stieg der Wohnungsbedarf. Dem Gymnasium in der Weinbergstraße folgten rasch ansehnliche Privathäuser. Auch Linsingen baute sich dort an. Von seiner Villa (jetzt Wölle) führt ein Treppenaufgang zur Ruine und von dort zur Promenade längs des Waldrandes zum Schönen Blick. Dieser von Linsingen geschaffene Spaziergang mit wechselndem Ausblick ins Hammerthal und ins Bruch hieß lange Zeit Bürgermeisterweg.
Auch die Bahnhofs-, Brunnen-, Berliner- und Wriezenerstraße füllten sich mit Neubauten. Der emeritierte Oberprediger Melcher richtete in der Brunnenstraße ein großes Knaben-Pensionat ein; schuf außerdem 1873 die nach ihm benannte Verbindung zwischen der Brunnen- und der neuplanierten Wilhelmstraße.
Auch die Bahnhofs-, Brunnen-, Berliner- und Wriezenerstraße füllten sich mit Neubauten. Der emeritierte Oberprediger Melcher richtete in der Brunnenstraße ein großes Knaben-Pensionat ein; schuf außerdem 1873 die nach ihm benannte Verbindung zwischen der Brunnen- und der neuplanierten Wilhelmstraße. Letztere hieß vordem die kleine Brunnengasse. Oberhalb der Melcherstraße entstand 1879 der Aussichtsturm mit Gedenktafeln für die 1864, 1866 und 1870/71 gefallenen Krieger. Er ist ohne öffentliche Mittel aus freigiebigen Spenden von Stadt und Land errichtet.
Mit der Bautätigkeit begann sich die Industrie zu regen. Zur Ausnutzung der großen Tonlager entstanden an der Eberswalder Chaussee zwei neue Dampfziegelwerke von F. W. Rath H. Kramer. Die Ziegelei Alaunwerk, deren Tonlager erschöpft war, erwarb von der Stadt ein tonreiches Gelände im Austausch gegen den in ihren Besitz gelangten Monte Caprino (Ziegenberg). Die Freienwalder Steine, geschätzt wegen ihrer Güte, gingen auf dem Wasserwege nach der Residenz, später sogar bis nach Kamerun; eine besondere Ladestelle “Ziegelei” erleichterte den Bahnversand. Auch die schätzenswerten Eigenschaften unserer Sandhügel wurden wieder entdeckt. Die Glassandfabrik van Baerle & Sponagel-Berlin verlegte ihren Betrieb hierher (Wriezenerstraße, jetzt Langesche Mostrichfabrik); die Firma Henneberg & Co. begründete am Kanal und nahe dem Bahnhofe eine große Schamottefabrik.
Der Grubenbetrieb auf Freienwalder Gebiet nahe dem Galgenberg (Wilhelmshöhe) hatte wegen der Mülligkeit der Braunkohle zeitweise geruht und war nach Altranft und Falkenberg verlegt worden. Jetzt, nach 1870, wurde er wieder aufgenommen. Die verbesserten Feuerungsanlagen in den Fabriken und Ziegeleien ermöglichten die Verwendbarkeit der Rohbraunkohle. 1880 wurde in Altranft eine Brikettfabrik errichtet; die Freienwalder Niederlagen gaben den Zentner Brikett für 60 Pfennig ab. Glückliche Zeit! Heute haben wir Not und Sorge, für mehr als das Zweihundertfache den notwendigsten Bedarf zu bekommen! – Ungünstige Lagerungsverhältnisse führten leider 1904 zur Einstellung des Grubenbetriebes und damit auch der Glassandfabrik.
Die Brennstoffrage führt uns auf ein anderes bedeutendes Werk, das Linsingen 1879 nach viel Verhandlungen gelang: die Ablösung der Gerecht same der 219 alten Bürgerhäuser auf freies Bau- und Brennholz aus der städtischen Forst. Jeder Berechtigte empfing 600 Mark in 4% Stadtanleihscheinen; damit wurde die gesamte Einwohnerschaft gleichberechtigter Besitzer der Forst. Anstelle des kleinen Friedhofes bei der Georgenkirche eröffnete die Stadt 1867 einen neuen Begräbnisplatz außerhalb der bebauten Stadt an der Wriezener Chaussee.
1873 legte man die ersten Trottoir platten an der Laufseite der Marktstraße von Haus 17 bis 29. Die Bürgersteige wurden nach und nach mit Bordsteinen eingefasst. Das bedeutete bei der geringen Finanzkraft der Stadt einen großen Fortschritt. An die Mosaikpflasterung und an die Sandsteinplatten in der Brunnenstraße wagte man sich wegen der Kosten erst sehr viel später und ertrug das wirklich schlechte Straßenpflaster mit großer Geduld. Wo anders war es ja auch nicht viel besser! Erinnert sei noch, daß wir Gasbeleuchtung erst seit 1899 haben. Bis dahin verbreiteten spärlich gesetzte Petroleumlampen abendlich einiges Licht in den Straßen.
Gesundbrunnen und Bad waren bis 1832 in Stadtbesitz. Die Brunnendirektion führte zu Linsingens Zeit Rittmeister v. Dietmar, ein freundlicher um das Gemeinwohl uneigennützig bemühter Herr. In den Gründerjahren nach 1871 hielten es die Stadtverordneten für ratsam, den Brunnenbesitz für 103 750 Mark an eine Bade- und Immobilien-Aktiengesellschaft abzugeben. Die Gesellschaft erbaute das Kurhotel, geriet aber bald in Vermögensverfall. In der Zwangsversteigerung, Dezember 1878, erwarb die Stadt den Besitz für 187 766 Mark zurück und wendete in den nächsten Jahren rund 100 000 Mark für Verbesserungen, namentlich für das neu errichtete Badehaus auf.
Bereits 1847 hatte sich ein Verschönerungsverein gebildet, der auf Linsingens Einwirkung seit 1865 eine umfangreiche Tätigkeit entfaltete. Er übernahm mit städtischer Beihilfe die Promenade nach dem Brunnen und schuf weit darüber hinaus neue Waldwege mit Ruheplätzen und Unterkunftshütten. Der langjährigen Vorsitzenden Poppenberg und Deutschmann sei rühmend gedacht.
Den Mittelpunkt des geselligen Lebens, das sich unter Linsingens Führung entwickelte, bildete der rasch aufblühende Gesangsverein, vom Organisten S e l l e am 100. Geburtstag Schillers, 10. November 1859, ins Leben gerufen. In ihm fanden sich alle Mitglieder der Gesellschaft aktiv und passiv zusammen. Gustav F. Selle, später Musikdirektor und Professor, erlebte das fünfzigjährige Bestehen deines Vereins. Er starb hochbetagt am 31. August 1913.
Neben dem Selleschen Gesangsverein gelangte der 1859 begründete, von Gustav Kramer und von Diemar trefflich geleitete Handwerkerverein zu großem Ansehen. Vielbesucht waren die wissenschaftlichen Vorträge, welche die Lehrerschaft des Gymnasiums unter Mitwirkung führender Persönlichkeiten während des Winters veranstaltete. Die Erträge flossen der Gymnasiallehrer-Witwen- und Waisenkasse zu; eine Reliktenversorgung gab es damals noch nicht.
Als in weiteren Kreisen bekannte Persönlichkeiten, die hier Wohnsitz erwarben oder öffentlich hervortraten, seien u. a. genannt: der Geheime Legationsrat von Aegidi, Mitschöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuches; der Polizeirat Stieber, dem die Sicherheit des großen Hauptquartieres 1870/71 anvertraut war der Kommerzienrat Kühnemann, der joviale Oskar Bluth – Berlin und der vieljährige Stadtverordneten-Vorsteher Düsterhaupt. Nicht zu vergessen sei der Volksdichter Karl Weise, den Theodor Fontane in seinen “Wanderungen” als märkischen Hans Sachs begrüßte und dessen meist hier entstandenen Dichtungen viel begeisterte Leser fanden. Der Große Berliner Handwerkerverein unterließ es nie, bei seinem Sommerausfluge vor Weises Haus in der Brunnenstraße Halt zu machen und Weise mit Gesang zu begrüßen. Der Gefeierte dankte dann in Versen aus dem Stegreif, die ihm trefflich gelangen.- Victor Blüthgens Wohnsitz und dichterisches Schaffen fällt in den Schluß der Linsingenschen Zeit.-
Beim Rückerwerb des Gesundbrunnens hatte die Stadt insoweit gut abgeschnitten, als sie das von der Aktiengesellschaft erworbene Gelände zwischen der Melcher- und Wriezenerstraße mit erhielt. Die Bebauung der dort angelegten Straße, deren eine nach Linsigen benannt ist, erlebte dieser nicht mehr.
Linsingens Gehalt betrug ursprünglich 700 Taler, es wurde nach und nach auf 1600 Taler erhöht, eine kärgliche Entlohnung für den Mann, von dem der Magistrat rühmte: “Wir haben das Glück eine Persönlichkeit zu besitzen, die nach alle Seiten mit Kraft und Umsicht die Interessen der Stadt wahrnimmt.” 1877 erfolgte Linsingens einstimmige Wiederwahl. Es konnte nicht fehlen, daß die Kreisverwaltung sich die Mitwirkung des seltenen Mannes sicherte. Seit der Kreisordnung war Linsingen ein oft in Anspruch genommenes Mitglied des Kreisausschusses und des Kreissparkassenvorstandes; er gehörte auch dem Provinziallandtage an.
Die Überarbeitung, der er sich bis zuletzt nicht entzog, erschöpfte frühzeitig Linsingens Kräfte. Vergeblich suchte er im Frühjahr 1883 in Lobenstein, später in San Remo und Bordighera, Genesung von seinem Nervenleiden. Er sollte die Heimat nicht wiedersehen. Auf der Rückreise verstarb er am 18. Dezember 1883 zu Heidelberg, betrauert von der Witwe und fünf unversorgten Kindern. Die Mittrauer in der Stadt war eine einmütige. Sie fand ihren Ausdruck in der Überführung und Bestattung der Leiche auf städtische Kosten Von der Nicolaikirche aus, wo der Sarg aufgebahrt war, gab ein endloses Gefolge der Behörden und der Bürgerschaft dem Toten das letzte Geleite. Ein einfaches Denkmal auf dem Friedhofe bezeichnet seine Ruhestätte.
“In aufopfernder und entsagungsvoller Tätigkeit und Pflichttreue war das Wohl und Gedeihen der Stadt sein einziges Ziel!” So lautet der Nachruf, den ihm der Magistrat widmete und mit dem wir die Erinnerung an Linsingen und seine Zeit schließen.
Der Beitrag stammt aus dem “Oberbarnimer Kreiskalender” des Jahres 1923. Julius Dörr (1850 – 1930) leitete seit 1881 vierzig Jahre lang die Kreissparkasse Freienwalde, pflegte als Heimatdichter vor allem das Plattdeutsche und gründete u.a. auch den “Oberbarnimer Kreiskalender”.
Quelle:
VIADRUS Heimatbuch für Bad Freienwalde
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