Prof. Bertold Jonas
Im Sommer 2004 haben wir im Rahmen des 1. Oder-Fährfestes den 100. Geburtstag des Güstebieser Kirchturms gefeiert, an dessen Westwand die Jahreszahl 1904 steht. Die Zifferblätter der im Jahr 2000 wieder in Gang gesetzten Kirchturmuhr weisen in die vier Himmelsrichtungen. Als Wahrzeichen des fast “verschwundenen Dorfes” steht der 25 Meter hohe Turm wie ein Wächter an dem Grenzfluß Oder und ruft mit seinem Glockenschlag die Menschen an beiden Uferseiten zur Begegnung, die nun schon wiederholt in festlicher Form mit erlebnisreichen Fährüberfahrten zusammenführte. Der Geschichte von Kirche und Turm soll in ihren einzelnen Bauabschnitten nachgegangen werden, da diese wichtige Daten der Dorfchronik darstellen.
Die mittelalterliche Kirche
Wie viele Dorfkirchen der Mark Brandenburg soll auch die Güstebieser aus dem 13./14. Jahrhundert stammen, als unter den Askaniern deutsche Ritter als Siedler ins Land “trans oderam”, d. h. “über die Oder” kamen. Güstebiese war damals ein slawisches Fischerdorf, wie die erste nachweisbare Erwähnung des Ortsnamens 1337 im Landbuch des Kurfürsten Ludwig d. Älteren und auch eine alte Karte gleichen Jahres mit dem Ort an der Odergrenze der Neumark ausweisen. Während sich die Wohnstätten der Fischer und Kossäten vermutlich in Flussnähe, dem später sogenannten “Unterdorf”, befanden, wurde die Kirche auf einer Höhe von etwa 25 Meter über NN. errichtet, dem späteren “Schulberg”. Als Baumaterial wurden Feldsteine verwendet, die auf den sandigen Feldern und in der Heide zahlreich zu finden waren.
Für damalige Zeiten entstand ein wehrhafter Bau von 8 Metern Breite und 12 Metern Länge, dessen Außenmauern die Stärke von 80 Zentimeter aufwiesen, wie sich aus einer 1928 noch vorhandenen Grundrisszeichnung errechnen ließ. Den Eingang legte man an den Westgiebel. Dieses alte gotische spitzbogige Hauptportal ist heute noch vorhanden. Die Kirche hatte keinen Turm.
Als Güstebiese 1466 vom Johanniter-Orden erworben und dem Ordensamt Grüneberg zugeteilt wurde, lebten im Dorf schätzungsweise 300 Einwohner, die mit der Einführung der Reformation 1539 nun eine evangelische Johanniter-Kirche hatten. Eine ähnliche Bevölkerungszahl war vielleicht auch wieder Ende des 17. Jahrhunderts vorhanden, als sich die hohen Verluste die durch den 30jährigen Krieg entstanden waren, ausgeglichen hatten. Um 1750 sollen in Güstebiese etwa 500 Einwohner gelebt haben. Noch reichte der kleine Kirchenraum aus.
Der Erweiterungsbau von 1840
Die hundert Jahre zwischen 1750 und 1850 sind für die Entwicklung des Dorfes von großer Bedeutung: 1753 erfolgt im Zuge der Trockenlegung des Oderbruches der Durchstich zum Oderkanal (Neue Oder) bei Güstebiese.
1756 wird als Kolonistendorf Neu Güstebiese gegründet, das vier Jahre später in Karlsbiese umbenannt wird. Unser Stammdorf heißt für eine kurze Übergangszeit Alt Güstebiese.
1780-1820 vollzieht sich die Ansiedlung der Güstebieser Loose als zur Gemeinde Güstebiese gehöriger Bauerndorfteil (“die fette Seite”).
1815 bringt die Fähre eine wichtige Verkehrsverbindung über die Oder.
1832 wird mit der Abdämmung der Alten Oder bei Güstebieser Loose der Schifffahrtsweg entscheidend verbessert.
Güstebiese entwickelt sich vom Fischerdorf zum Schifferdorf. Neue Durchgangsstraßen von der Neumark durch das Oderbruch zum Barnim, ein Umschlagshafenplatz für Getreide und Vieh, der Bau von Windmühlen und Werftanlagen fördern Handel und Wandel. Mit der Wirtschaft wachsen Dorfausdehnung und Bevölkerung. In diesen hundert Jahren verdoppelt sich die Einwohnerzahl auf etwa 1.000 Seelen, die in ihrer alten kleinen Kirche nicht mehr genügend Platz finden. Ein Erweiterungsbau wird beschlossen und 1840 ausgeführt.
Die Grundrisszeichnung aus dem Kreisbauarchiv Königsberg/Nm. zeigt, wie der neue breitere Teil nach Osten angebaut wurde; 10 Meter breit, 18 Meter lang. Mit insgesamt 30 Meter besitzt die Kirche nun eine beachtliche Länge. Und da auch für die vielen Besucher noch eine Empore, gestützt von mächtigen runden Holzsäulen, eingebaut wurde, und dazu eine recht große Orgel, muss auch die Dachhöhe der alten Kirche angehoben worden sein, um einen durchgehenden First zu erreichen.
Die Mauern der mittelalterlichen Kirche sind stehen geblieben. An der Südwand des neuen Teils wurde ein Seiteneingang und im Ostgiebel ein Eingang für den Pfarrer gestaltet. Um den Erweiterungsbau auf “ebene Sohle” setzen zu können, musste für seinen östlichsten Teil die Hangschräge des Schulbergs angeschnitten und mit einer Stützmauer aus Ziegelsteinen versehen werden, unterbrochen von einer zum Pastoreneingang führenden Treppe.
Der Kirchturm von 1904
Um die Jahrhundertwende war Güstebiese ein großes wohlhabendes Oderdorf und hatte doch immer noch keinen Kirchturm wie seine Nachbardörfer Blessin und Lietzegöricke! Dafür war 1896 mit dem Schulausbau zur vierklassigen Hauptschule eine wichtige Investition getätigt worden. Stand vor dem alten Hauptportal am Westgiebel ein hölzerner Glockenturm? Wir wissen es nicht genau. Doch 1904 war es geschafft der neue Kirchturm wurde am Westgiebel angebaut!
Starke Grundmauern mit 6 m Seitenlänge trugen den quadratischen Bau, der von der Westseite eine große Turmeingangstür erhielt und an der Südseite einen Zugang mit Wendeltreppe zum Glockenboden und der Plattform zum Läuten der drei Glocken, die 1905 in Apolda/Thüringen gegossen worden waren.
Die Turmhöhe erreichte beachtliche 25 Meter und überragte die in schöner Hanglage befindlichen Häuser des Dorfes. Und da der Kirchturm ja auch noch auf dem Schulberg stand, konnte man ihn schon weit vom Oderbruch her erkennen und seine Uhrzeit von den großen hellen Zifferblättern sogar vom Chausseehaus am Oderdamm aus in 1.000 Meter Entfernung ablesen. Den vorüberfahrenden Oderschiffern war der Turm ein einprägsames Merkmal der “Perle am Oderstrand”, wie man damals Güstebiese nannte.
Für mich als Junge, der unmittelbar neben der Kirche im Schulhaus aufgewachsen bot der Turm Anreiz zu kleinen Abenteuern: Helfen beim Glockenläuten; Kastanien durch die Schallluken an die Glocken werfen; aus der obersten Dachluke unter der Turmspitze weit übers Oderland schauen bis zum Aussichtsturm von Freienwalde. Das sind an Heimat gebundene unvergessliche Erinnerungen.
In der Nacht vom 22./23.Apri1 1917 klang heftiges “Sturmläuten” übers Dorf. Das Hochwasser drohte den Damm oberhalb des Chausseehauses aufzureißen. Das Oderbruch war in höchster Gefahr! Durch beherzten Einsatz konnte die Katastrophe abgewendet werden. Mein Großvater mütterlicherseits Wilhelm Schröter, Schulleiter und Kantor in Güstebiese, hat darüber als Augenzeuge in der Schulchronik berichtet und 1918 den noch heute am Damm stehenden Gedenkstein als Chorleiter des “Gemischten Chores Güstebiese” einweihen helfen.
In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1945 erreichten russische Truppen die Oder bei Güstebiese. Die Glocken blieben stumm. Bald auch standen die Uhren still. Ins Ziegeldach unter “meiner” Turmluke war eine Granate eingeschlagen. Aus Güstebiese wurde Gozdowice.
Der vierte Bauabschnitt
Die Güstebieser Kirche soll im Zweiten Weltkrieg relativ wenig beschädigt worden sein. Genaue Angaben darüber liegen nicht vor. Von polnischer Seite habe ich von Einwohnern oder auch von dem früheren Pastor nur wenige, zum Teil unklare Aussagen erfahren. Ich habe unsere Kirche 1974 zum ersten Male wiedergesehen. Sie war nun wieder ein katholisches Gotteshaus.
Die polnische Kirchenverwaltung hat im Laufe der Jahre Umbauten vornehmen lassen, die gegenüber der deutschen Zeit gewichtige Veränderungen gebracht haben. Die genauen Jahreszahlen sind mir nicht bekannt. Man könnte sie aber doch insgesamt als “vierten Bauabschnitt” bezeichnen, den ich in einer Fortsetzung des heutigen Beitrages beschreiben möchte.
Seit 1998 sind wir ehemaligen Güstebieser in engem Kontakt mit dem jetzigen Pastor der Gozdowicer Kirche, Herrn Ignacy Stawarz, in dem wir einen großen Förderer unserer gemeinsamen Vorhaben gefunden haben. Auch die Lehrerin Barbara Atroszko aus Gozdowice ist an einer geschichtlichen Aufarbeitung der Güstebieser/Gozdowicer Dorfgeschichte interessiert, zu der die Klärung der polnischen Kirchengeschichte seit 1945 einen wichtigen Beitrag liefern könnte. Vielleicht wird daraus ja wieder ein neues deutsch-polnisches Gemeinschaftsprojekt.
Quelle:
VIADRUS Heimatbuch für Bad Freienwalde
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