Meine Großmutter meinte es völlig erst: Niemals darfst Du an einen Lindenbaum pinkeln! So sehr auch die Blase drückt. Die Strafe würde nämlich sofort auf dem Fuße folgen und am Auge wachse solchen „Ferkeln” ein Gerstenkorn. Die Warnung haben wir Enkel ernst genommen. Und als uns Oma zum ersten Mal mit in ihr Heimatdorf nahm, konnten wir zumindest ahnen, weshalb Linden für sie so wichtig waren. Ein riesiger Lindenbaum erhob sich vis-a-vis ihres Geburtshauses mitten auf dem Dorfanger. Hier hätte sie als junges Mädchen zum ersten Mal getanzt – noch zu Kaisers Zeiten. Später, so erinnerte sich die betagte Frau, dort auch den Großvater kennengelernt. Überall in den deutschsprachigen Landen traf sich über Jahrhunderte hinweg die Dorfbevölkerung unter Lindenbäumen. Meist ohne zu tanzen, oft zu einem Feierabend-Schwatz.
Auch in Dannenberg bei Bad Freienwalde hat einmal eine Linde ganz eine besondere Rolle gespielt – als Gerichtslinde. Es gibt in Brandenburg gerade mal noch eine Handvoll solcher Gerichtsbäume, die die Zeitenläufe überdauert haben. In Zehdenick an der Havel, in Kammer und Rönnebeck bei Gransee und eben die von Dannenberg. Zugegeben – der Baum in dem Barnim-Dorf hat seine besten Jahren lange hinter sich. Nicht nur einmal wird ihn der Blitz getroffen haben. Eher bescheiden als eindrucksvoll steht er am Dorfrand. Weshalb er sich allerdings nicht der Mitte des Ortes befindet, sondern abseits an der Straße nach Krummenpfuhl, kann keiner mit Sicherheit erklären. Möglicherweise war das Dorf einst anders aufgeteilt als heute.
Schwer zu glauben, dass unter dem Blätterdach der Linde einmal die gesamte männliche Bevölkerung Platz gefunden hat, um „Recht zu sprechen”. Selbst wenn die Einwohnerzahl viel niedriger anzusetzen ist als heute und Knechte in der Regel kein Stimmrecht hatten. Der Begriff „Stimmrecht” führt überhaupt in die Irre. Die Bedeutung der Gerichtsfälle, über die unter dem Dannenberger Baumveteranen entschieden wurde, hielt sich gewiss in Grenzen. Denn sowohl auf die hohe als auch auf die niedere Gerichtsbarkeit hatten auch sogenannte freie Bauern kaum Einfluss. Die lag beim Adel oder beim Landesherrn selbst. Aber unter Gerichtslinden traf man sich zu Dorfversammlungen. Über das Amt des Dorfvorstehers und der Gemeindehirten wurde entschieden. Und dann versuchte man, Grenzstreitigkeiten zu schlichten. Immer wieder entbrannten über den Verlauf von Feldrainen erbitterte Nachbarschafts-Konflikte. Einst galt das Verrücken von Grenzsteinen als schwere Straftat. Als Kapitalverbrechen, wie man heute sagen würde.
In der Mark Brandenburg waren es wohl eher Zivilprozesse, die unter freiem Himmel abgehalten wurden. Oder es wurden Erlasse und Gesetze verkündet, neue Steuern.
Allerdings anderswo in Deutschland soll sogar unter Linden über Leben und Tod entschieden worden sein. Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt das sogenannte „ judicum sub tilia”. das „Recht unter der Linde“ Schon bei unseren germanischen Vorfahren standen Linden hoch in der Gunst. Der Baum war der Liebesgöttin Freiya gewidmet. Und auch den Slawen, die während der Völkerwanderung in das Land zwischen Elbe und Oder kamen, galten Lindenbäume als Sitz der Götter als heilig. Als Kaiser Karl der Große das Christentum nach Mitteleuropa brachte, machte die Kirche aus den Freiya-Linden Marien-Linden. Man nahm Blätter und Blüten mit nach Hause, denn sie galten als wundertätig. Lindenbast an die Stalltür gebunden, hielten Hexen vom Vieh fern. Lindenasche auf das Feld gestreut, vertrieb Ungeziefer vom Acker.
Ganz und gar konnte offenbar die katholische Kirche die heidnischen Bräuche wohl doch nicht aus dem Gedächtnis der Menschen tilgen. So warnten mittelalterliche Theologen, an bestimmten Tagen die Nähe von Linden aufzusuchen. Vor allem in der Walpurgisnacht vom 30. April zum 1. Mai und in der Johannisnacht am 24. Juni würden sich Hexen treffen.
Selbst die Dichtung greift die Negativ-Deutung der Linden auf. Ein kleines Lindenblatt, so wird im Nibelungen-Lied erzählt, verhinderte die völlige Unverwundbarkeit von Siegfried, dem Königsohn aus Xanten. Und in einem Lindenhain soll der blonde Recke meuchlings ermordet worden sein.
Dieser dunklen Seite zum Trotz preisen Lieder und Gedichte die Zeit der Lindenblüte. Diese Lobgesänge überraschen nicht; galten doch die Blüten als wichtigstes Nahrungsmittel der Bienen. Deren Honig war bis zur Einführung des Rohrzuckers aus Südamerika nach Europa einziges Süßungsmittel. Aber auch die Volksmedizin war ohne Linden-Präparate nicht denkbar. Bis heute ist bekannt: Lindenblüten-Honig lindert Beschwerden bei Erkältungen.
Ob allerdings Lindensamen wirklich gegen Pest und Ruhr halfen, ist eher zu bezweifeln. Und bei Gicht konnten mittelalterliche Kräuterfrauen mit einem wirksamen Bannspruch aufwarten:
Gichtfuß, du sollst stehen,
sollste vergehen,
sollste verschwinden,
wie das Laub an den Linden
Dann noch Tipp von meiner Großmutter. Wenn man dann doch wegen der anfangs erwähnten „Ferkelei” mit einem Gerstenkorn bestraft worden ist, dann helfen Lindenblätter. Drei davon aufs Auge gebracht und die unangenehme Erkrankung verschwindet.