Ulrich Gericke
Einstens, als es Sonntag wieder
und Herr Lämpel brav und bieder
in der Kirche mit Gefühle
saß vor seinem Orgelspiele… |
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Es gibt ihn nicht mehr, diesen Dorfschulmeister. Wilhelm Busch hat ihm aber ein unvergessliches Denkmal gezeichnet und gedichtet. Er gehörte zur Dorfgemeinschaft wie Bäcker, Müller, Schneider oder Bauer. Viele Dörfer haben heute keine Schule mehr, der Lärm spielender Kinder ist verstummt.
Das Sprichwort “die Kirche im Dorf lassen” meint: sie ist nicht aus unserem Leben wegzudenken, weg-verfallen-zu-lassen. Sie gehört zum Leben vergangener und zukünftiger Generationen. Für die steinernen Zeugen konnte viel zur Erhaltung oder gar zum Wiederaufbau getan werden. Wie steht es aber mit dem Innenleben, der Einrichtung? Zu den oft wertvollsten Einrichtungsgegenständen einer Kirche gehört die Orgel. Schlicht und einfach, ohne besonderen Schmuck in der Dorfkirche, aber eben unsere, die einzige und einzigartigste. Kaum eine Orgel gleicht der anderen.
Was nützt aber eine Orgel, vielleicht schön anzusehen, wenn sie nicht klingt? Wer waren die Menschen, die sie spielten, wer kennt ihre Namen, wo sind sie festgehalten? Und – natürlich! – der Calcant, der Bälgetreter, der Windmacher! Ohne ihn ging gar nichts! Von einem heißt es, dass er sich einbildete, wichtiger zu sein, als der Spieler. (Ja “der”, denn Frauen durften das früher noch nicht.) Wenn er hinten keinen Wind mache, könne er vorn auch nicht spielen. Und wenn er vorn nicht spielen kann, könne der Pfarrer nicht predigen. Also müsse er eigentlich vorne sein!
Wie so oft, ist die Sachlage in der Stadt besser dokumentiert. So steht in Rudolf Schmidts Stadtgeschichte von 1934 zu lesen:
“Nachdem Anno 1616, den 26. Juni der in Gott selig verstorbene Hans von Uchtenhagen, als damals hiesige gewesene Obrigkeit, reiflich erwogen, daß wohl nützlich bei hiesigem Städtlein ein Kunstpfeifer zu halten, in Erwägung, daß dieses der blühenden Jugend in der Kirche zu Chore dienlich und sie zur Musik angestärket, die Ehre Gottes befördert, und jeder Obrigkeit wie auch dem Städtelein wegen der vielfältigen Passage zum Ruhm es gedeihen würde, als ist diese Fundation billig und sehr dienlich.” In diesem etwas umständlichen Deutsch des 17. Jahrhunderts beginnt ein interessantes Aktenstück im Freienwalder Magistratsarchiv, das uns die Geschichte der städtischen Kunstpfeifer, der “Stadt-Musicorum”, erzählt. Hans von Uchtenhagen berief 1603 den ersten Kunstpfeifer, David Stollbergk. Der Kunstpfeifer war zugleich auch Organist an der St. Nikolaikirche, wenigstens anfänglich.
Es folgt eine genaue Festlegung der Aufgaben (z.B. “vom Turm zu blasen”) und über die Bezahlung, bar und in Naturalien. Aber welche Musik genau, Instrumente, Noten, Lieder – darüber kann man nur Vermutungen anstellen.
Vor über eintausend Jahren beginnt die Orgel im Mittelalter das typische Kircheninstrument zu werden. Zunächst nur in den großen Städten Europas mit reichen Kirchenzentren. Sie wird aber noch nicht zur Begleitung des Gemeindegesangs genutzt, sondern spielt im Gottesdienst solo. Erst lange nach der Reformation beginnt die Orgel auch die Lieder zu begleiten, “um der Gemeinde den Rücken zu stärken”, also von hinten, von der Orgelempore. Es war auch damals schon schlecht bestellt um den Gesang. Johann Sebastian Bach hat sich oft beklagt. Mit der Fülle der neuen aufkommenden Gesangbücher konnte die Gemeinde nicht gleich Schritt halten. Das Leipziger Gesangbuch, das Bach benutzte, hatte 5000 Lieder! Noch waren doch die meisten Gemeindeglieder Analphabeten und konnten sich die teuren Bücher nicht leisten. Also wurde, schlecht und recht, auswendig gesungen. Historiker schätzen, dass die Landgemeinde um 1700 etwa 40 Lieder auswendig konnte, die Stadtgemeinde das Doppelte bis Dreifache. Es war Aufgabe des Kantors, die Lieder anzustimmen. Das erforderte durchaus einige Übung und wer sich um das Amt bewarb, musste eine Prüfung ablegen.
Amüsant ist in einem Protokoll eines Pommerschen Dorfes aus dem Jahre 1729 folgendes zu lesen:
Martin Ott, Schuster allhier, 30 Jahre des Lebens alt, hat in der Kirche gesungen:
a) Christ lag in Todesbanden usw.
b) Jesus meine Zuversicht usw.
c) Sieh hier bin ich Ehrenkönig usw.
Hat aber noch viel Melodie zu lernen, auch könnte seine Stimme besser sein. Gelesen hat er Genesis 10,26 bis aus, buchstabierte V. 16 bis 29. Das Lesen war angehend, im Buchstabieren machte er zwei Fehler. Dreierlei Handschrift hat er gelesen – mittelmäßig; drei Fragen aus dem Verstand beantwortet – recht; aus dem Catechismo de sc. coena und die 54. Frage recitieret – ohne Fehler; drei Reihen dictando geschrieben – vier Fehler; des Rechnens ist er durchaus unerfahren…
Er wurde nicht gewählt. Die Bezeichnung “Kantor” wurde später auch auf den Orgelspieler und Chorleiter übertragen. Da kommt mir ein Erlebnis in den Sinn: Ich hatte in Velten zu tun. Auf der Suche nach der Anschrift stoße ich im Stadtplan auf die “Kantor-Gericke-Str.”. Nein, denke ich, so viel Ehre schon zu Lebzeiten? Des Rätsels Lösung: Gustav Gericke (1863-1934), Lehrer, Kantor, Küster und Organist schrieb eine Chronik über den Industrieort und gründete 1894 das Ofen- und Keramikmuseum Velten. Ihm zu Ehre und Andenken also der Straßenname. Ein Beispiel für vielfältige und kulturelle Tätigkeit auch anderer Schulmeister.
1505 bekam die Stadtpfarrkirche Bad Freienwalde die erste Orgel. Nach und nach folgten die Dorfkirchen, zumeist gespendet vom Landadel. Im 19.Jh. ist kaum noch eine Dorfkirche ohne Orgel, gespielt vom Lehrer mit Windmacher. Orgelbauer hatten also gut zu tun, nicht nur mit dem Bau neuer Orgeln, sondern auch mit Pflege und Reparaturen. Von 1846 bis 1889 befand sich in der Bad Freienwalder Uchtenhagenstraße 3 die Orgelbauwerkstatt von Georg Mickley.
Die nächste Werkstatt war schon in Königsberg/Neumark. Herrn Karl Richter aus Bad Freienwalde ist die Erforschung der Geschichte dieser Werkstätten und ihrer Orgeln zu danken. Seine Arbeit ist in zwei Büchern der Nachwelt erhalten. Zwei weitere Orgelbaufirmen, die für das Land an der Oder und darüber hinaus von großer Bedeutung waren und sind, befinden sich in Eberswalde und Frankfurt/O.
Die Kunst des Orgelspiels gab der Vater an den Sohn weiter – sofern sie es (beide) wollten. Der Unterricht war also auch in diesem Beruf zunächst allgemein Privatsache. Fehlten Begabung, Fleiß und Begeisterung nicht, konnte man noch auf Wanderschaft gehen und von berühmten Kollegen lernen. Lehrerseminare bildeten Kantoren und Lehrer aus, die dann je nach Begabung mal mehr als Lehrer, oder mehr als Kantor in Stadt und Land tätig waren. In der Zeit der Aufklärung wurde in der zweiten Hälfte des 18.Jh. das Lehrersein wichtiger. Die gestiegenen Anforderungen an den Beruf und die hohe Qualität der Kirchenmusik führten 1926 zur Gründung der ersten deutschen Evangelischen Kirchenmusikschule in Aschersleben, die später nach Halle/S. verlegt wurde. 1968 wurde auch ich dort Student. In meiner Verwandtschaft, unter meinen Vorfahren gibt es keinen Schulmeister, Kantor, Musiker oder Pfarrer. Aber durchaus musikalische Begabung. Singen war unsere liebste Freizeitbeschäftigung. Wie wurde ich also Kirchenmusiker, wie man den Beruf heute nennt? Durch Alkohol! Ja! Das war auch damals nicht einfach mit der Orgelei auf dem Land. Man hat mir berichtet, dass in meinem Heimatdorf eine Frau (!) Sonntags zum Gottesdienst die Orgel spielte, die den weltlichen, geistigen Genüssen eher zugetan war als den geistlichen. So ging sie während der Predigt in die Kneipe, die sich (wie praktisch!) gleich neben der Kirche befand, um “einen zu kümmeln”. Meist blieb es nicht bei dem einen und oft soll sie gar nicht mehr an die Orgel zurückgekommen sein. Da kam also ich dann – durch Alkohol! Zunächst aber kam, als der Zustand unerträglich geworden war, der Pfarrer zu meinen Eltern. Er hatte gehört, dass da ein Junge sei, der Klavier spielen könnte. Nun, ich hatte vier Jahre privat Klavierunterricht, schon einige Praxis im Begleiten von Liedern in den häuslichen “Singstunden” und vor allem im Gottesdienst einer Baptistengemeinde. Aber Orgel und in der Kirche? Die Probe verlief aber zur Zufriedenheit des Pfarrers. Meine ersten Gottesdienste habe ich gespielt, da war ich 12, mit vielen Pannen und unbeschreiblicher Aufregung. Inzwischen hat sich das gegeben. Geblieben ist meine Begeisterung, ein einmaliges Instrument zur Ehre Gottes und zur Freude der Menschen zum Klingen zu bringen.
Eine einzigartige, christliche Kultur darf nicht einfach achselzuckend mit dem Strom der Zeit entschwinden. Jungen Menschen, die wie ich von Orgelmusik begeistert sind, wird in diesem Jahr zum vierten Mal ein Sommer-Orgel-Kurs in der Malche, Bad Freienwalde geboten. Der Orgel-Förderverein Insel Neuenhagen e.V., gegründet 2008, bemüht sich mit vereinten Kräften und den Kirchengemeinden um den Erhalt der Orgeln in den Kirchen Altglietzen, Bralitz und Neuenhagen.
Spannender als die Vergangenheit ist die Zukunft! Neue Lämpels braucht das Land!
Quellen:
– Kunterbunter Kontrapunkt, Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1972, S. 189 ff.,
– Johannes Gillhoff, Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer
– Rudolf Schmidt, Bad Freienwalde (Oder), Geschichte der Stadt in Einzeldarstellungen, Bd. 1, S. 125 ff.